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"Unterschiedlich zu sein, bedeutet nicht, Feinde zu sein"

Sozialer Zusammenhalt wird gerne als „Kitt einer Gesellschaft“ umschrieben: Der Begriff beschreibt die Verbundenheit, das Miteinander und den Gemeinsinn einer Gesellschaft. Wie wichtig die Förderung des sozialen Zusammenhalts in kulturell, ethnisch und religiös vielfältigen Gemeinschaften ist, erklärt uns unsere Mitarbeiterin Tharaa A. Simaan am Beispiel der Ninewa-Ebene im Irak, wo wir Vertriebenen bei der Rückkehr und dem Ankommen in der Heimat unterstützen.

Erzählen Sie uns über sich und Ihre Arbeit bei Malteser International

Tharaa A. Simaan: Ich stamme aus Bakhdida, auch bekannt als Qaraqosh, in der Ninewa-Ebene des Nordiraks. Ich arbeite für das Ninewa-Rückkehrprogramm von Malteser International als Assistentin für Monitoring und Evaluierung und bin insbesondere an der Komponente „Sozialer Zusammenhalt“ des Programms beteiligt. Unser Büro befindet sich in Erbil, aber meine Arbeit findet hauptsächlich vor Ort statt. Ich reise viel in die verschiedenen Gebiete in der Ninewa-Ebene und begleite und monitore die Aktivitäten unserer Partner. Ich arbeite nun seit 10 Monaten für Malteser International.

Was genau meinen wir, wenn wir von sozialem Zusammenhalt sprechen, und warum ist er ein Bestandteil des Rückkehrprogramms in der Ninewa-Ebene im Irak?

Simaan: Die Ninewa-Ebene ist die Heimat einer Vielzahl von Gruppen verschiedener Religionen und Ethnien. Die meisten von ihnen wurden vertrieben, als das Gebiet vom Islamischen Staat eingenommen wurde. Im Rahmen unseres Programms arbeiten wir daran, die Rückkehr der vertriebenen Familien zu unterstützen – auf allen Ebenen. Wir bauen Häuser und Schulen wieder auf und geben den Familien die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der letzte, aber ebenso bedeutungsvolle Pfeiler dieses Programms ist der „soziale Zusammenhalt“. Wir verstehen ihn als Unterstützung der Dinge, die das Vertrauen zwischen oder innerhalb von Gemeinschaften stärken. Der physische Wiederaufbau der Dörfer ist nämlich zwar sehr wichtig, aber wenn wir uns nicht aktiv für ein friedliches Zusammenleben einsetzen, kann dies ein Grund für die Familien sein, nicht in ihre Heimat zurückzukehren.

Welche Rolle können in Konfliktsituationen, in denen religiöse oder ethnische Identitäten politisch als Trennlinie missbraucht werden, glaubensbasierte Organisationen wie Malteser International spielen, um zu einem nachhaltigen Frieden beizutragen?

Simaan: Die Gemeinschaften, mit denen wir in der Ninewa-Ebene arbeiten, reichen von sunnitischen und schiitischen Muslimen, die arabischen, schabakischen, turkmenischen und kurdischen Ethnien angehören, bis hin zu Jesiden, Christen und Kakais. Die Werte von Malteser International sind im christlichen Glauben und den humanitären Prinzipien verwurzelt. Mitgefühl, Menschlichkeit und Unparteilichkeit bilden die Grundlagen unserer Arbeit. Das bedeutet, dass wir mit Mitgliedern verschiedener Gemeinschaften zusammenarbeiten, unabhängig von ihrer Religion oder ihrem ethnischen Hintergrund. Unsere Botschaft innerhalb dieser heterogenen Gesellschaften ist es, dass unterschiedlich zu sein nicht bedeutet, Feinde zu sein. Es geht um die Einheit in der Vielfalt. Mit dieser Botschaft wollen wir Vorurteile abbauen, die durch Hassreden in der Vergangenheit verbreitet wurden.

Mit welchen konkreten Aktivitäten setzen wir uns für den sozialen Zusammenhalt in der Ninewa-Ebene ein?

Simaan: Wir arbeiten mit drei Partnern eng zusammen und unterstützen sie bei ihren Maßnahmen für sozialen Zusammenhalt: Namentlich sind dies Women Rehabilitation Organization (WRO), Peace and Freedom Organization (PFO) und Un Ponte Per (UPP). Gemeinsam bauen wir Jugendzentren und Sporteinrichtungen, organisieren Kultur-, Sport- und Freizeitaktivitäten sowie kommunale Radio- und Musikveranstaltungen. Und das sind nur einige Beispiele unserer Aktivitäten.

Unsere Partner führen auch Schulungen zur Friedensförderung, zu Kommunikationsfähigkeiten und Problemlösungstechniken durch. Sie bringen die Menschen zusammen, um gemeinsam Lösungen für ihre Herausforderungen zu erarbeiten. An einigen Orten wurden sogenannte lokale Friedenskomitees eingerichtet. Sie werden die während dieser Trainings erlernten Botschaften in ihren jeweiligen Gemeinden verbreiten und Veranstaltungen wie z. B. Marathons in ihren Dörfern organisieren. In den Schulen arbeiten wir auch mit den Eltern und Lehrern zusammen und verknüpfen Aktivitäten des sozialen Zusammenhalts mit Schulungen in beruflicher Bildung und Lebenskompetenzen.

Wenn Angehörige einer Religion einen besonderen Anlass wie das Zuckerfest feiern, organisieren unsere Partner gemeinsame Feste, an denen sich die Menschen anderer Religionen als Zeichen der Offenheit und Solidarität beteiligen können.

Wie steht es um die Geschlechtergerechtigkeit mit Hinblick auf sozialen Zusammenhalt? Welche Rolle können Frauen und Jugendliche bei der Konfliktprävention und im Dialog spielen?

Simaan: Das ist eine wichtige Frage. In einigen Gemeinden der Ninewa-Ebene ist es Frauen kulturell verboten, an Veranstaltungen außerhalb ihres Hauses teilzunehmen. Unsere Partner setzen sich für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis innerhalb unserer Projekte ein. Wir bemühen uns stets um einen gleichberechtigten Zugang zu den Aktivitäten. Das bedeutet manchmal, dass in kulturell sensiblen Kontexten getrennte Aktivitäten für Männer und Frauen durchgeführt werden müssen. Wir wissen, dass Frauen bei der Konfliktprävention und dem Dialog eine grundlegende Rolle spielen. Nicht nur, aber auch weil sie zumeist für die Vermittlung von Werten wie Toleranz und Frieden an ihre Kinder verantwortlich sind. Es ist sehr wichtig, dass sie gleichberechtigt und vollwertig an der Friedensförderung mitwirken.

Dies gilt auch für junge Menschen, denn sie sind die Zukunft und Fortschritt jeder Gemeinschaft. Wenn sie in einem diversen Umfeld aufwachsen, in dem sich untereinander mit Respekt begegnet wird, werden sie dies weitertragen und eine widerstandsfähige Gemeinschaft schaffen, die in der Lage ist, sich gegen hetzerische und spaltende Stimmen zu wehren.

Welche Fortschritte haben wir bisher erzielt, und was sind die künftigen Herausforderungen?

Simaan: Die Gemeinden in der Ninewa-Ebene sind noch immer traumatisiert von den Jahren des Konflikts und werden Zeit brauchen, um sich zu erholen. Obwohl sich die Versöhnung noch in einem frühen Stadium befindet, kann unser Team bereits einen Wandel in der Denkweise der jungen Menschen erkennen. Sie sind toleranter und akzeptieren andere Meinungen. Einige Gemeinden beginnen, Mädchen die Teilnahme an Aktivitäten zu erlauben, die ihnen früher verboten waren. Das mag wie ein kleiner Schritt aussehen, aber ich glaube, dass unser Programm große Veränderungen in den Gemeinden bewirken wird.

Bei all dem ist die Sicherheitssituation des Landes die größte Herausforderung. Wenn die Situation instabil wird, beeinflusst das die Arbeit grundlegend und könnte sie ins Wanken bringen.

Februar 2020

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