"Über das Vergessen zu klagen macht keinen Sinn. Wir müssen intensiv daran arbeiten, das humanitäre System weiter zu verbessern."
Interview mit Sid Johann Peruvemba, stv. Generalsekretär und Programmdirektor von Malteser International (bis 2019)
Das öffentliche Bild humanitärer Hilfe ist geprägt von der Sofortreaktion in aktuellen Krisen, Konflikten und Naturkatastrophen. Daneben geraten viele andere Krisen in der öffentlichen Wahrnehmung in Vergessenheit. Ihnen widmet sich die Kampagne "Vergessene humanitäre Krisen“, die das Auswärtige Amt gemeinsam mit verschiedenen Hilfsorganisationen Anfang des Jahres 2016 gestartet hat. - Im Interview spricht Sid Johann Peruvemba, stellvertretender Generalsekretär und Programmdirektor von Malteser International (bis 2019), darüber, warum einige Krisen in Vergessenheit geraten und wie gemeinsam Lösungsansätze entwickelt werden können.
Trotz anhaltender Not der Bevölkerung geraten manche seit Jahren andauernde Krisen und Konflikte in Vergessenheit. Worin liegen Ihrer Ansicht nach die Gründe hierfür?
Es sind nicht nur Krisen und Konflikte, sondern auch Ereignisse, Menschen, Themen und andere Aspekte aus der großen Bandbreite unseres Menschseins, die in Vergessenheit geraten. Das Vergessenwerden ist also kein Alleinstellungsmerkmal von Krisen. Weltweit gibt es einfach zu viele Krisenherde und Konfliktregionen. Während einige ausführlich porträtiert werden, leiden andere unter Vernachlässigung. Warum? Wird hier menschliches Leid unterschiedlich bewertet? Die Berichterstattung in den Medien, das politische Handeln, die finanzielle Ungleichbehandlung durch Geldgeber oder auch die Arbeit von Hilfsorganisationen könnten eine solche Vermutung nahelegen. Doch ich bin fest überzeugt von einer weltweiten Solidarität und Hilfsbereitschaft der Menschen. Nichtsdestotrotz werden Krisen ungleich beantwortet, weil sie finanziell ungleich behandelt werden, weil politische Verantwortung aufgrund fehlender Betroffenheit nicht ausreichend wahrgenommen wird und auch die humanitäre Hilfe aufgrund einer steigenden Unterfinanzierung an ihre Grenzen stößt.
Was heißt das für die Menschen in den Krisengebieten, die aus dem öffentlichen Blickfeld geraten sind?
Die Menschen dort leiden unter einer dauerhaften Unterversorgung an Nahrungsmitteln, Medikamenten, Schulbildung usw. Doch eine solche Unterversorgung existiert auch in den Krisenregionen, die in den Medien und im Bewusstsein der Öffentlichkeit präsent sind, wie die Situation der Bevölkerung in Syrien zeigt. Hinzu kommt: Je vergessener, desto perspektivloser. Schauen wir beispielsweise auf die in Myanmar lebende muslimische Minderheit der Rohingya: Sie werden nicht als eigenständige Bevölkerungsgruppe anerkannt und verfügen als Staatenlose über keinerlei Rechte. Sie dürfen nicht wählen, haben keinen Zugang zu höherer Bildung und eine offizielle Ausreise wird ihnen nicht gestattet. Aber auch in bekannten Krisen ist Perspektivlosigkeit ein großes Thema. Das beste Mittel wäre es, Krisen zu verhindern.
Der weltweite humanitäre Bedarf übersteigt in vielen Hinsichten die Möglichkeiten der internationalen Gemeinschaft. Welche Gefahren ergeben sich, wenn gerade die Krisen weiter vernachlässigt werden, die ohnehin schon vernachlässigt sind?
Konflikte kennen keine Grenzen mehr. Wenn solche Krisen weiter vernachlässigt werden, werden bestehende Konflikte weiter schwelen und neue Konflikte entstehen. Gewalt, Widerstand und Tod werden zunehmen und den Frieden immer mehr gefährden. Manche Krisen werden uns in Europa einholen, wenn sich noch mehr Menschen hierher zu uns auf den Weg machen. Gleichzeitig müssen wir uns die Unterfinanzierung der humanitären Hilfe vor Augen führen. Noch nicht einmal die Hilfe in den medienträchtigen Krisen kann ausreichend finanziert werden. Und auch die Ressourcen der Hilfsorganisationen, diese Hilfe umzusetzen, sind begrenzt.
Haben sich Situation und Anzahl der vergessenen Krisen in den vergangenen zehn Jahren eher verschlimmert oder verbessert? Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Aus meiner Sicht hat sich das Bewusstsein über Krisen in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Dazu haben die neuen sozialen Medien eine Menge beigetragen. Auch wenn es bisher keine einheitliche Definition und kein einheitliches Bewertungssystem für vergessene Krisen gibt, so existieren doch eine ganze Reihe von Kriterien zu deren Beurteilung. Das Europäische Amt für humanitäre Hilfe (ECHO) identifiziert die am meisten vergessenen Krisen durch das jährliche „Forgotten Crisis Assessment“. In diese Analyse werden Kriterien wie die Vulnerabilität, die mediale Berichterstattung sowie die existierende Hilfe berücksichtigt und durch eigene Erkenntnisse und Einschätzungen ergänzt. Myanmar und Kolumbien beispielsweise stehen seit vielen Jahren auf dieser Liste, die meistens sechs bis zehn Länder umfasst. In der Regel handelt es sich hierbei immer um besonders fragile Staaten.
Was müssen die internationale Gemeinschaft, die Hilfsorganisationen und die Öffentlichkeit tun, um Krisen und Konflikte aus der Vergessenheit zu holen und angemessene Hilfe leisten zu können?
Wir müssen intensiv daran arbeiten, das Analyseinstrumentarium, das humanitäre System und dessen Finanzierung weiter zu verbessern, damit Krisen rechtzeitig wahrgenommen und Ungleichheiten in der Beantwortung menschlichen Leids und der Verteilung der Mittel vermieden werden. Über das Vergessen zu klagen macht keinen Sinn.
Gleichzeitig müssen wir uns bewusst machen, dass unsere Betrachtungsweise der Welt und ihrer Krisenherde durch einen gewissen Eurozentrismus geprägt ist. Die Regierungen und die Öffentlichkeit in Asien oder in Amerika haben eine andere Sicht auf die Dinge. Das heißt, wir müssen unsere Rolle hier in Europa hinterfragen. Wir haben nicht überall die Problemlösungskompetenz. Wenn wir unsere eurozentrische Sichtweise hinter uns lassen und eine polyzentrische Weltordnung zugrunde legen, bekommen lokale Akteure und Partner sowie neue Geldgeber mit anderen Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern eine wesentliche größere Bedeutung. Viele Krisen, die wir vergessen zu haben scheinen, spielen in regionalen Medien eine große Rolle.
Für Malteser International ist das Engagement in vergessenen Krisen ein Aspekt, der besondere Beachtung verdient. Welche Herausforderungen ergeben sich hier und wie gehen Sie vor?
Besondere Herausforderungen ergeben sich im Hinblick auf die Finanzierung und den programmatischen Ansatz unserer Hilfe. Humanitäre Organisationen finanzieren ihre Arbeit aus Spendenmitteln. Doch das Einwerben von Spenden für vergessene Krisen ist wesentlich schwieriger als für in den Medien aktuelle und präsente Krisen. Darum sind zweckfreie Spenden für unsere Arbeit so enorm wichtig. Denn sie geben uns Hilfsorganisationen die Möglichkeit, die Gelder dort einzusetzen, wo sie aktuell am dringendsten gebraucht werden, also auch in den von der Öffentlichkeit und den Medien vergessenen Krisenregionen. Auch die 90 bis 95 Prozent der von öffentlichen Gebern kommenden Mittel orientieren sich vielfach an den in der Öffentlichkeit präsenten Themen.
Was unseren programmatischen Ansatz betrifft, so leisten wir in vielen vergessenen Krisen wie beispielsweise in der DR Kongo oder im Rakhine-Staat in Myanmar langfristige Struktur- und Aufbauhilfen in enger Zusammenarbeit mit lokalen Partnern. Dabei müssen wir besonders auf eventuelle politische Implikationen unserer Arbeit achten, um nicht dauerhaft zum Erfüllungsgehilfen eines nicht funktionierenden Staates zu werden. In allen Krisen - den vergessenen ebenso wie den chronischen und aktuellen -, ist es unser Anliegen, die Vulnerabilität der Bevölkerung zu reduzieren und ihre Widerstandsfähigkeit gegen Katastrophen, Krisen und Konflikte zu stärken. Hierfür sind langfristig angelegte Hilfsprogramme erforderlich. In der Provinz Ituri in der DR Kongo beispielsweise sind wir eine der wenigen internationalen Hilfsorganisation vor Ort. Hieraus ergibt sich für uns eine besondere Verpflichtung, auch weiterhin vor Ort zu bleiben und die Menschen nicht allein zu lassen.
Angesichts unzureichender Ressourcen der internationalen Gemeinschaft sollte die Stärkung lokaler Partner umso mehr im Mittelpunkt der Hilfe stehen. Warum ist die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern für Malteser International so wichtig?
Lokale Akteure und Partner sind eine wichtige Säule unserer Arbeit. Sie verfügen über ganz andere Problemlösungskompetenzen als wir. Denn sie kennen das Land, die Menschen und ihre Nöte viel besser. Sie verfügen vor Ort über wichtige Netzwerke, die eine rasche Hilfe ermöglichen. Ein Vorschlag einer internationalen Initiative lautet daher, dass zukünftig bis zu 20 Prozent aller Finanzmittel der Geber direkt an lokale Organisationen und nicht mehr über die internationalen Hilfsorganisationen fließen. Zudem verfolgen wir in unseren Programmen die humanitäre Vision des Sich-Überflüssig-Machens. Wir setzen uns kontinuierlich für die weitere Qualifizierung unserer lokalen Partner ein, damit sie die Hilfsprogramme eigenständig fortführen können.
Viele Krisen sind sehr langwierig und Verbesserungen oft kaum in Sicht. In Kolumbien beispielsweise leidet die Bevölkerung seit rund 50 Jahren unter einem bewaffneten Konflikt. Woher nehmen Sie die Motivation, sich trotz oft aussichtsloser Situationen weiter für Verbesserungen einzusetzen?
Es motiviert mich zu sehen, dass sich das humanitäre System und dessen Analyse-Instrumente kontinuierlich verbessern. Denn trotz aller Schwerfälligkeit und Starrheit des Systems sind wir in der humanitären Hilfe auf der Grundlage einer erfrischenden Selbstkritik immer auf der Suche nach neuen Lösungen. Es macht mir Freude, hieran mitzuwirken. Das Rollenverständnis der humanitären Helfer hat sich in den vergangenen Jahren enorm gebessert. An die Stelle einer reinen Versorgungsmentalität ist ein sehr bewusstes Agieren getreten. Mein Engagement bei Malteser International als dem Werk des Malteserordens für weltweite humanitäre Hilfe gibt mir zudem die großartige Möglichkeit, nicht nur an der weiteren Professionalisierung des humanitären Systems mitzuarbeiten, sondern gleichzeitig auch meinen Glauben in der konkreten Hilfe am Nächsten zu leben und so beide Stränge in meiner täglichen Arbeit in Einklang zu bringen.
Gibt es eine Krise, die Sie persönlich besonders stark beschäftigt? Und wenn ja, warum?
Ja, es sind insbesondere zwei Kategorien von Krisen, bei denen ich starken persönlichen Anteil nehme. Zum einen sind das Krisen, die mich selbst beruflich stark beschäftigen, wie zum Beispiel die Krise im Nahen Osten: Bereits seit 2003 unterstützen wir im Nordirak die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Seit nunmehr fast 13 Jahren arbeiten wir hier mit denselben lokalen Partnern zusammen. Ich kenne viele Menschen in der Region und fühle mich ihnen eng verbunden.
Zum anderen machen mich seit Jahren auch die Krisen sehr nachdenklich, in denen wir nichts tun können. Zum Beispiel der Jemen. Das Leid der Zivilbevölkerung ist unvorstellbar groß. Und doch müssen wir uns der erschreckenden Erkenntnis stellen: Ein Zugang in das Land ist für uns nicht möglich, wir können den Menschen dort im Moment nicht helfen.
Das Auswärtige Amt startet in diesem Jahr eine gezielt auf vergessene Krisen fokussierte Kampagne, um das Bewusstsein der Öffentlichkeit für diese Problematik zu schärfen. Malteser International beteiligt sich mit anderen Hilfsorganisationen an dieser Kampagne. Welche Erwartungen und Hoffnungen verbinden Sie damit?
Malteser International ist eine der Organisationen, die das Thema der vergessenen Krisen in den vergangenen Jahren gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt und dessen Koordinationsausschuss für humanitäre Hilfe in den Vordergrund gerückt haben. Mit der Kampagne gehen wir nun mit unseren Anliegen an die Öffentlichkeit in der Hoffnung, Unterstützer zu finden in Form von Spendern, Steuerzahlern und Entscheidungsträgern oder auch im Sinne von moralischer Unterstützung. Wir wollen mit der Kampagne niemandem ein schlechtes Gewissen machen, sondern das System der humanitären Hilfe verbessern. Gemeinsam geht es uns darum, Krisen rechtzeitig wahrzunehmen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren und ein funktionierendes humanitäres System zu schaffen, in dem lokale Akteure angemessen gestärkt und die finanziellen Ressourcen, die leider begrenzt sind, gleichmäßig verteilt werden. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass sich gute Ideen und Wahrhaftigkeit immer durchsetzen werden. Doch meistens braucht es hierfür eine große Portion Geduld, an der es mir leider oft fehlt.
Interview: Petra Ipp-Zavazal (Januar 2016)