Internationaler Tag der Gerechtigkeit: "Der Schutz von Zivilisten muss ernsthaft durchgesetzt werden!"
Andauernde gewaltsame Konflikte, Massenflucht, Naturkatastrophen und Epidemien – die moderne Zivilisation findet kaum Lösungen für die dringlichsten Probleme von Millionen Menschen, die unter den Folgen der weltweiten Krisen leiden.
Im Interview erläutern der Präsident von Malteser International Thierry de Beaumont-Beynac, Generalsekretär Ingo Radtke und der stellvertretende Generalsekretär und Programmdirektor Sid Johann Peruvemba, wie sich Malteser International in diesem Kontext für die Zukunft aufstellt.
Sagen wir, Sie haben einen Wunsch frei, was sich in der Welt bis zum Jahr 2030 verändert haben sollte. Was wäre Ihr Wunsch?
de Beaumont-Beynac: Natürlich wünsche ich mir, dass dann weniger Menschen unter den Folgen von Kriegen, Krankheiten und Hunger leiden müssen. In Bezug auf unsere Arbeit würde ich sagen: Wir möchten in Zukunft weiter in der Lage sein, Menschen in Not zu helfen und einen Beitrag dazu leisten, Leid in der Welt zu lindern – immer mit dem Ziel, dass es den Menschen, mit denen wir arbeiten, besser geht.
Peruvemba: Ich wünsche mir, dass mehr politische Lösungen für Konflikte gefunden werden und dass die humanitäre Hilfe nicht in die Falle läuft, Politikersatz zu werden. Gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege sind die Hauptursachen für das Leid der Menschen in unseren Projektregionen. Wie immer sind vor allem die Schwächsten und Unbeteiligten der Gewalt und Willkür ausgeliefert. Der Schutz von Zivilisten muss endlich ernsthaft durchgesetzt werden! Außerdem wünsche ich mir, dass wir in Zukunft ein deutlich geringeres Gefälle zwischen den reichen Ländern des Nordens und armen Ländern des Südens haben werden. Das meine ich nicht nur im Hinblick auf die derzeit noch enormen wirtschaftlichen Unterschiede, sondern auch in Bezug auf Ideen und moralische Ansprüche.
Radtke: Mit Blick auf die weltweite Flüchtlingskatastrophe wünsche ich mir, dass im Jahr 2030 keine Menschen mehr – aus welchen Gründen auch immer – ihre Heimat verlassen müssen. Und wenn es doch einmal der Fall sein sollte, dass sie in den Gastländern auf vernünftige Aufnahmebedingungen treffen.
»Es muss eine neue Friedensbewegung geben, die alle Bereiche der Gesellschaft umfasst.«
Die Kämpfe um Aleppo und Mossul, die schwere Hungerkrise in Afrika und der Exodus der Rohingya aus Myanmar: 2017 war – mal wieder – ein Jahr, in dem viele Millionen Menschen unter bittersten Bedingungen leiden mussten. Es scheint momentan nicht wirklich voran zu gehen.
Peruvemba: Politisch sehen wir tatsächlich kaum Bewegung. Die derzeitigen Bemühungen wirken einfallslos und halbherzig. Es scheint mir nicht so, als würden momentan alle Kunstfertigkeiten der Diplomatie voll ausgenutzt.
Das klingt erst einmal recht deprimierend. Gibt es auch Regionen, die Hoffnung machen?
de Beaumont-Beynac: Mit Blick auf die Gesamtsituation ist die Entwicklung ja insgesamt sogar positiv: Seit 1990 hat sich die Anzahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, halbiert. Auch die Zahl der hungernden Menschen konnte in diesem Zeitraum deutlich reduziert werden. Im vergangenen Jahr ist sie aufgrund der schweren Hungerkrise in Afrika zwar wieder angestiegen, insgesamt zeigt der Trend aber weiter eine positive Richtung.
Peruvemba: Vor allem in Asien stehen viele Länder, die früher klassische Empfängerländer waren, heute ökonomisch recht gut auf eigenen Füßen. Wir schließen auch immer wieder Projektstandorte, weil wir sehen, dass unsere Arbeit dort nicht mehr benötigt und von der lokalen Bevölkerung selbst übernommen wird. Ich denke hier vor allem an Vietnam, Kambodscha und auch Thailand. Viele afrikanische Länder haben eine durchaus positive Entwicklung hinter sich. Weltweit beobachten wir einen wachsenden Mittelstand, was auf der einen Seite ein großer Segen ist, auf der anderen Seite aber neue Verteilungskonflikte und ökologische Herausforderungen mit sich bringt.
Radtke: In Bezug auf die Flüchtlingskrise sehen wir in einigen Projektländern sehr gute Ansätze. In der Türkei ist die Versorgung der Flüchtlinge hervorragend. Auch in Uganda und im Libanon werden große Anstrengungen unternommen, um die Menschen angemessen unterzubringen und ihnen eine Zukunftsperspektive zu ermöglichen. Hier wurden für unsere Arbeit Rahmenbedingungen geschaffen, in denen wir den Menschen gut helfen können.
Mehr politische Lösungen, weniger Menschen auf der Flucht, Ausrichtung von Malteser International für die Zukunft: Was müsste passieren, damit wir Ihren Wünschen einen Schritt näher kommen?
Peruvemba: In der Politik muss ein Umdenken stattfinden und wieder entschlossener gehandelt werden. Wir müssen uns fragen: Wer blockiert momentan friedliche Lösungen? Das sehe ich als ein gesamtgesellschaftliches, moralisches Projekt zum Schutz der Zivilbevölkerung in der Welt. Konkret benötigen wir zwei Dinge: Bei massiven Kriegsverbrechen braucht es einen Verzicht auf das Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat. Und es muss eine neue Friedensbewegung geben, die alle Bereiche der Gesellschaft umfasst.
Radtke: Wenn wir sagen, dass wir den Menschen ein Leben in Gesundheit und Würde ermöglichen und Fluchtursachen bekämpfen wollen, was bedeutet das dann? Würde ist für uns beispielsweise, den Menschen eine Wahlmöglichkeit und damit Entscheidungsfreiheit zu lassen – etwa, indem wir Geld verteilen, über das sie frei entscheiden können. Das bedeutet aber auch, dass wir die betroffenen Menschen sehr viel früher in die Planungen unserer Programme und vor allem die Ideenfindung einbeziehen müssen.
de Beaumont-Beynac: Auf Organisationsebene müssen wir uns zukunftsfähig aufstellen, und das bedeutet: Wir müssen eine hohe Qualität unserer Arbeit sicherstellen, unsere Strukturen optimieren und eine breite finanzielle Basis für die Zukunft schaffen. Grundsätzlich geht es darum, fortlaufend unsere Abläufe auf den Prüfstand zu stellen und uns als Organisation weiterzuentwickeln. Monitoring und Evaluierung sind wesentliche Bestandteile in unserem Projektzyklus, hier besteht fortlaufender Optimierungsbedarf in der Erhebung zuverlässiger Daten. Wichtig ist uns darüber hinaus, dass wir innerhalb unserer Organisation Lernprozesse etablieren, um die erworbenen Informationen zu verarbeiten und zukünftige Projekte anhand dieser Erkenntnisse zu verbessern.
In Hinblick auf die Strukturen: Wie stellt sich Malteser International für die Zukunft auf?
de Beaumont-Beynac: Ein wichtiger Baustein ist der Ausbau unserer Nothilfe-Kapazitäten. Bis zum Jahresende 2018 wollen wir den Aufbau und die Zertifizierung unseres Emergency Medical Teams, kurz EMT, bei der Weltgesundheitsorganisation abgeschlossen haben. Das Team aus Ärzten, Sanitätern, Logistikern und Koordinatoren muss spätestens 72 Stunden nach einer Katastrophe vor Ort und sofort einsatzbereit sein, um im Notfall schnell zu helfen. Jeden Tag müssen mindestens 100 Patienten versorgt werden können. Hinsichtlich Ausstattung und Materialien muss das Team für die Dauer des Einsatzes komplett autark arbeiten können. Mit dem Emergency Medical Team sind wir zukünftig in der Lage, schneller auf Naturkatastrophen oder den Ausbruch von Epidemien zu reagieren.
Peruvemba: Wenn sich unsere Arbeit mehr an den Menschen vor Ort ausrichten soll, dann ist eine stärkere Dezentralisierung unserer Arbeit unabdingbar. Das bedeutet, nicht einfach mehr Geld in lokale Strukturen zu investieren, sondern vielmehr Entscheidungsprozesse zu verlagern. Die Definitions- und Meinungshoheit der Menschen in den Projekten muss auch dann akzeptiert werden, wenn es uns nicht passt. Und schlussendlich müssen wir über ›Hilfe‹ hinausdenken. Im Blick habe ich Social-Enterprise-Modelle oder Kooperationen mit Jugendorganisationen vor Ort, die wir in Zukunft stärken möchten.
Mehr lokale Strukturen bedeutet auch weniger zentrale Kontrolle. Wie stellen wir Qualität in unseren Projekten sicher?
Peruvemba: Wir haben uns verschiedenen Transparenz- und Qualitätsstandards verpflichtet, deren Einhaltung wir über interne Kontrollsysteme wie ein regelmäßiges Projektmonitoring und enges Controlling in allen unseren Projekten sicherstellen. Zusätzlich prüft die interne Revision alle Bereiche unserer Arbeit im In- und Ausland und sichert die Einhaltung der für unsere Arbeit geltenden Richtlinien sowie des etablierten internen Kontroll- und Risikomanagementsystems. Wir müssen ja weiter die Anforderungen und Standards unserer Geber an unsere Projekte erfüllen, und auch die Spender haben ein berechtigtes Interesse daran zu erfahren, was mit ihren Spendengeldern passiert.
de Beaumont-Beynac: Im vergangenen Jahr haben wir zudem einen umfassenden Prozess zur Evaluierung unserer Projekte nach den Prinzipien des Core Humanitarian Standard angestoßen, deren erste Ergebnisse Sie auf Seite 45 dieses Berichts nachlesen können. Hier sieht man recht konkret, dass wir beispielsweise in der Einbeziehung der lokalen staatlichen Akteure schon recht stark sind, die Betroffenen selbst aber noch besser in unsere Planungen integrieren müssen. Über solche zusätzlichen Kontrollmechanismen entwickeln wir unsere Programme konsequent weiter.
Radtke: Wichtig ist es uns auch, dass die Mitarbeiter weltweit nicht allein die verschiedenen Methoden und Standards verinnerlicht haben, sondern auch unsere Werte leben. Wir sind eine katholische Hilfsorganisation, die sich nicht nur den humanitären Prinzipien der Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit verpflichtet hat, sondern vor allem der christlichen Nächstenliebe. Unsere Mitarbeiter leben dies in vielfacher Hinsicht und fühlen sich damit wohl.
Das Interview erschien im Malteser International Jahresbericht 2017.