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Leben auf der Flucht im Nordosten Nigerias

Eine Reportage unserer Pressereferentin Katharina Kiecol, die sich vor Ort unsere Projekte anschaute.

Pulka ist eine kleine Ortschaft im Nordosten Nigerias, nahe der Grenze zu Kamerun. Die Anfahrt von Maiduguri, der Hauptstadt im Bundesstaat Borno, unserem Hauptstandort in Nigeria, in diese Kleinstadt mit 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern und zusätzlich 30.000 Geflüchteten, ist so gefährlich, dass mir die 100 km lange Anreise nur mit einem Hubschrauber der UN erlaubt ist. Denn islamistische Terrororganisationen tyrannisieren seit mehr als zehn Jahren die Bevölkerung in diesem Teil Nigerias. Von oben schaue ich auf die flirrende Hitze am Boden und die karge Landschaft. Kaum ein Baum oder Strauch sind derzeit zu sehen. Im Schnitt herrschen hier aktuell Temperaturen um die 45 Grad und auch nachts kühlt es kaum ab.

Übernachten darf ich in Pulka nicht, denn auch das ist zu gefährlich. Zu groß ist die Gefahr, dass ich entführt oder überfallen werde. Mehr als zwei Millionen Menschen mussten sich allein im Nordosten des Landes in Sicherheit bringen und sind in sichere Ortschaften geflohen. In Pulka haben wir eines unserer drei Büros in Nigeria. Hier arbeiten 12 unserer insgesamt 64 Kolleginnen und Kollegen. Hauptziel unserer Arbeit: Die Menschen mit sauberem Wasser zu versorgen und Frauen und Mädchen sichere Räume zu geben, um einen Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu finden. Vor Ort darf ich mich, wie im ganzen Staat Borno, nur mit dem Auto fortbewegen. Ein Stückchen weg von der Hauptverkehrsader der Kleinstadt haben die Geflüchteten vor den Terroristen Schutz gefunden und leben in kleinen Häusern aus Lehm, Wellblech oder Plastikfolie. Das Camp wurde von IOM aufgebaut, der UN-Organisation für Migration. Von ihnen wird das Camp auch verwaltet. Hier darf ich mich mit meinen Kolleginnen, die mich begleiten, frei bewegen. Den Schutz vor den Angriffen der Terroristen bietet hier das nigerianische Militär.

Eine Zwangsehe, die nicht lange hielt

Hier lerne ich Halinka Ummate kennen. Sie ist 24 Jahre alt. Mit 13 Jahren musste sie vor den Terroristen aus ihrem Dorf fliehen. „Als Boko Haram kam, töteten sie Menschen in meinem Dorf und ich lief um mein Leben. Als ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern nach Pulka kam, lebten wir zunächst im Busch. Dann kamen die Soldaten und brachten uns in ein Transitlager. Wir kamen mit nichts in diese Stadt. Wir wohnten in einer Schule. Dann haben sie (IOM, Anmerkung der Redaktion) die Unterkünfte für uns gebaut und uns in das neue Camp gebracht. Meine Familie meinte, es sei nun Zeit für mich, zu heiraten und so heiratete ich, verließ das Camp und kam in die Stadt.“ Doch die Zwangsehe hielt nicht lang. Mittlerweile hat sie einen zweiten Mann und eine zweijährige Tochter. Diese schläft während meines Besuchs in dem kleinen Haus aus Lehm mit dem Wellblechdach, vor dem wir auf dem Boden sitzen.

„Das erste Mal lernte ich Malteser International im Camp kennen. Sie kamen zu uns, bauten Latrinen, klärten uns über Hygiene auf und verteilten Moskitonetze und viele Dinge, die wir vorher nicht einmal kannten. Bei den Sitzungen in den Safe Spaces (sicheren Räumen) für Frauen und Mädchen haben sie uns erklärt, wie wir unseren Körper während der Periode mit Damenbinden versorgen können.“ Gelernt hat Halinka im Safe Space auch, wie sie Mützen für Männer näht. Die Kopfbedeckung gehört zur traditionellen Kleidung in Nigeria. Und so hat sie einen Weg gefunden, eigenes Geld zu verdienen und muss nicht mehr ihren Mann um Geld bitten, wenn sie etwas benötigt.

Nur wenige Meter von Halinkas Haus entfernt, stehe ich in einem der zwei Safe Spaces, die wir in Nigeria für die Frauen und Mädchen eingerichtet haben. In den kommenden Wochen werden acht weitere hinzukommen. „Frauen sind das Rückgrat der Familie“, sagt Johnson Byamukama, Länderbüroleiter von Malteser International in Nigeria. „Wenn es ihnen gut geht, geht es auch der restlichen Familie gut. Wir bieten ihnen in den Safe Spaces die Möglichkeit, sich auszutauschen, ihre Probleme und Fragen mit unseren Mitarbeiterinnen zu besprechen und sich fortzubilden. Die Mädchen können einfach Kind sein und spielen.“

Vor der Eingangstür springen Mädchen Seil, hinter dem Haus produzieren einige Frauen Nudeln und hängen sie zum Trocknen über eine Leine. Im Haus sitzen rund 50 Frauen auf dem Boden. Einige spielen ein traditionelles Murmelspiel, andere nähen, wieder andere unterhalten sich. „Das Konzept in den Schutzräumen für Frauen und Mädchen ist an allen Standorten gleich. Sie sollen einen sicheren Raum haben, in dem sie sich austauschen und lernen können. Männern ist der Zutritt grundsätzlich verboten. Auch unsere männlichen Kollegen dürfen die Räume nicht betreten“, erklärt Johnson.

Schutz im Camp Mashamari

Zurück in Maiduguri, unserem Hauptstandort in Nigeria und der größten Stadt im Staat Borno mit rund einer Million Einwohnern, mache ich mich auf den Weg in eines der weiteren Geflüchtetencamps in Mashamari. Es liegt rund eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Für mich sieht das Camp eher wie eine kleine Ortschaft aus, denn die Häuser wurden zum großen Teil von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst gebaut. Es gibt also keine fertigen Container oder Zelte von Hilfsorganisationen. Der Zugang zu den Camps in dieser Region ist nicht allen erlaubt. Aus Sicherheitsgründen sind die Straßen nur zwischen 9.00 und 15.00 Uhr passierbar. Die vielen Checkpoints verschiedener Autoritäten wie zum Beispiel dem nigerianischen Militär verdeutlichen mir, dass eine ständige Gefahr gegenwärtig ist.

Meinen Eindruck bestätigt Hawa Bakar, die in das Camp geflohen ist. Sie erzählt mir, dass noch am Tag zuvor zwei Menschen außerhalb des Camps erschossen wurden. Näheres berichtet sie nicht. Auch acht Jahre nach ihrer Flucht ist das Leben ihrer Familie nur scheinbar sicher. „Als Boko Haram das Dorf zum ersten Mal angriffen, nahmen sie alle unsere Vorräte an Lebensmitteln mit. Danach ließen sie uns mit leeren Händen zurück. Beim nächsten Überfall nahmen sie Kinder mit. Da war für mich klar, dass ich fliehen muss. Als meine Großmutter und ich gehen mussten, haben wir die kleinen Kinder auf den Rücken genommen. Wir hatten nur einen Esel dabei. Mein Mann kam später nach.“

In Mashamari hat sich Hawa Bakar inzwischen eine eigene Existenz aufgebaut. In unserem Safe Space hat sie gelernt, Nudeln herzustellen. Mit etwas Geld von Malteser International konnte sie sich eine eigene Nudelmaschine kaufen. Nun stellt sie Nudeln her, die sie anschließend verkaufen kann.

Wasser ist ein Stück Sicherheit

Doch auch wenn sie bereits seit acht Jahren mit ihrer Familie hier lebt, zurück in ihre Heimat möchte sie nach wie vor. So wie auch Hassana Shueibu. Der 66-Jährige lebt seit neun Ramadan in Mashamari, so zählt er die Jahre. Er hat eine ruhige, freundliche Ausstrahlung, doch als er beginnt über seine Flucht zu sprechen, wird er emotional. „Das Leben hat sich verändert. Wir hatten unsere Würde, bevor diese „Tiere“ kamen und uns alles nahmen. Mein eigener Glaube sagt mir, dass ich weitermachen soll, aber nichts ist mehr wie vorher. Als der Terror begann, hatten wir Angst, unsere Häuser zu verlassen, denn wann immer jemand das Dorf verließ, wurde er abgeschlachtet. Also beschlossen wir, auf die Soldaten zu warten, damit sie uns begleiten. Früher hatte ich 200 Tiere, doch ich habe alles verloren. Ich hatte sogar jemanden, der sich um die Tiere gekümmert hat. Dann kamen Boko Haram, sahen den Viehhüter und töteten ihn.  Ich hatte nur noch ein paar Tiere, als ich hierherkam. Anfangs habe ich einige verkauft, damit ich diese Häuser bauen konnte und damit wir etwas zu essen kaufen konnten. Ich habe noch immer die Hoffnung, zurückzukehren. Malteser International hat uns sehr geholfen, seit wir hier leben. Zunächst hatten wir nur eine einfache Handpumpe für Wasser, doch jetzt haben wir einen ordentlichen Brunnen, der uns mit sauberem und ausreichend Wasser versorgt.“

Wie wichtig sauberes Wasser ist, wird mir wieder einmal in diesen Tagen klar. Heute, bei meinem zweiten Besuch in Mashamari, habe ich nur eine Flasche mitgenommen und sie ist bereits am Mittag leer. Gleich hinter dem Haus von Hassana und seiner Familie ist einer der Brunnen, die wir hier installiert haben und mit Solar betreiben. Hassanas Frau ist Mitglied in einem der sogenannten Wasserkommitees. Die Volontärinnen und Volontäre sorgen dafür, dass die Menschen, die hier Wasser holen, sich ordentlich anstellen und nicht streiten. So voll wie es gerade an diesem Brunnen ist, ist es keine leichte Aufgabe, den Überblick zu behalten. Außerdem schauen sie, dass die Wasserkanister sauber sind, damit die Familien keine Krankheiten durch verunreinigtes Wasser bekommen.

Nach fast 10 Tagen verlasse ich Nigeria wieder und fliege zurück nach Köln, wo ich in unserem Hauptquartier arbeite. Ich habe viele Eindrücke gesammelt. Einmal mehr habe ich großen Respekt vor der enthusiastischen Arbeit meiner Kolleginnen und Kollegen, die so vielen Hindernissen und körperlichen Strapazen ausgesetzt sind und doch ihrer Arbeit voller Herzenswärme und Überzeugung nachgehen. Und natürlich beeindrucken mich die Menschen, mit denen wir arbeiten. Sie geben die Hoffnung, auch nach so vielen Jahren nicht auf, eines Tages in ihre Heimat zurückkehren zu können und in Frieden zu leben.

(Juni 2024)

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