Ihre Liebe macht sie stark - Unsere Programmkoordinatorin in Haiti berichtet
Für einen Moment stockt Yolette Etienne die Stimme. Der Frau, die sonst ruhig und klar von ihrer Arbeit für Malteser International auf Haiti erzählt, kommen die Tränen, als sie von einem Angriff von Banden auf die Stadt Kenscoff berichtet. Ende Januar umzingelten sie den Ort in der Nähe der Hauptstadt Port-au-Prince. Mehrere Tage zogen sie durch die Straßen, schossen um sich, legten Feuer. „Ein zwei Jahre altes Baby verbrannte in den Flammen“, sagt Etienne. Bei dem Angriff auf Kenscoff starben 50 Menschen, Hunderte wurden aus ihren Häusern vertrieben. Es ist eines von vielen Beispielen für die Gewalt und das Leid auf Haiti. Seit der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moise im Jahr 2021 gewinnen Banden an Macht. Mehr als 200 gewalttätige Gruppen konkurrieren landesweit um Einfluss, Geld und Ressourcen. Mittlerweile wird die Hauptstadt Port-au-Prince zu 85 Prozent von ihnen kontrolliert. Eine funktionierende Regierung, eine zuverlässige Polizei, ein organisiertes Gesundheitssystem – all das gibt es in Haiti nicht.
Yolette Etienne ist Haitianerin und arbeitet seit 2010 als Programmkoordinatorin für Malteser International. Sie ist täglich mit Gewalt konfrontiert, sieht die Armut und das Leid der Menschen, erlebt den Niedergang ihres Heimatlandes hautnah. Und bleibt trotzdem. „Ich liebe dieses Land. Es ist meine Heimat, mit wunderbaren, guten und mutigen Menschen. Für mich wäre es eine Schande, zu gehen“, sagt sie. „Ich gebe mein Bestes, um hier zu überleben und mich und meine Mitarbeiter zu schützen, damit wir den Menschen helfen können.“
"Ich hoffe, die Menschen beten für uns in Haiti."
Malteser International engagiert sich in Haiti vor allem auf dem Land. Denn die Menschen fliehen aus der Hauptstadt und suchen in den Dörfern Schutz. „Wir dachten, 2024 sei ein schlimmes Jahr gewesen, aber 2025 wird noch schlimmer“, sagt Etienne. Eine Million Menschen sind in Haiti auf der Flucht, für dieses Jahr sollten laut Prognosen weitere 500 000 Flüchtlinge hinzukommen. Doch die Zahl sei bereits Ende Februar erreicht worden, sagt Etienne. Die Geflüchteten haben keine Unterkunft und kein Einkommen. Einige kommen bei Angehörigen unter. Die Hilfsorganisation unterstützt in Haiti fünf Gesundheitszentren sowie Projekte zum Gemüse- und Obstanbau, zur Schaf- oder Ziegenzucht und sie unterstützt bedürftige Menschen mit Bargeld als Nothilfe. Sie ist vor allem in der Region Nippes aktiv und möchte den Menschen dort helfen, ein eigenständiges Leben aufzubauen. Doch Etienne beobachtet, dass viele unterernährte Kinder in die Gesundheitsstationen kommen. „Die Ernährungslage wird immer schlechter“, sagt sie. Wirbelstürme, Dürren und Starkregen zerstören Ernten und die Erträge reichen nicht, um die Menschen auf dem Land ausreichend zu versorgen.
Dem Hilfswerk fehlen Spenden, um die eigenen Projekte auszuweiten. Auch die Arbeit im Slumgebiet Cite Soleil in der Hauptstadt mussten die Malteser im vergangenen Jahr einstellen. Zum einen fehlte das Geld, vor allem aber wurde die Arbeit zu gefährlich. Denn die Banden agieren unberechenbar. „Sie töten und zerstören wahllos“, sagt Etienne. „Sie sagen, sie seien an der Seite der Armen, aber sie zerstören deren Viertel. Zuletzt ein Krankenhaus, das vor allem arme Menschen behandelt hat. Und in einer Armenschule wurde ein Junge in seinem Klassenraum tödlich von einer Kugel getroffen. Jeder kann zu jeder Zeit den Banden zum Opfer fallen.“
Helfen unter ständiger Bedrohung
Dennoch lebt und arbeitet Etienne in Port-au-Prince. Sie betreut mit ihren acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Landesbüro und koordiniert die Projekte und die Verteilung der Hilfsgüter. In der Stadt versucht sie, sich zu schützen, so gut es geht. „Wenn wir hören, dass Banden in der Nachbarschaft aktiv sind, bleiben wir in unseren Häusern“, sagt Etienne. Sie fährt nie mit dem Auto, sondern nutzt ihr Motorrad – um Anschlägen besser entkommen zu können. Mit ihren Projekten kratzen die Helfer an der Macht der Banden. Diese ködern Kinder und Jugendliche mit Mahlzeiten und Spielen. „Wir aber wollen die Eltern unterstützen, ihre Kinder gut zu ernähren und zur Schule zu schicken“, sagt Etienne. „Den Jugendlichen sagen wir: Du wirst bei der Gang nicht lange leben.“ Auch katholische Priester und Bischöfe versuchen so, den Einfluss der Banden zu beschneiden. „Aber das ist gefährlich. Wer laut etwas sagt, wird zum Ziel“, sagt Etienne.
Trotz der katastrophalen Lage hat sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben. „Ich bin Realistin, aber auch Optimistin“, sagt sie und lacht. „Es macht mich traurig, zu sehen, was wir uns gegenseitigantun. Aber so kann es nicht ewig weitergehen. Ich bin mir sicher, mein Land wird das eines Tages hinter sich lassen.“ Yolette Etienne bittet um weltweite Solidarität: „Ich sehe nicht nur das Schicksal meines Landes. Ich weiß, was in Syrien los ist und in Gaza. Ich bete für die Menschen dort. Und ich hoffe, die Menschen beten auch für uns in Haiti.“
Dieser Beitrag wurde von Kerstin Ostendorf verfasst und erschien im Mai 2025 im Magazin der Bistumspresse.